Artikel

Ausgewählte Beispiele

  • Kurzinformation Religion: Salafismus, in: Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e.V. (REMID), 20. März 2017.
  • Special Correspondence: De-Radicalising Militant Salafists, in: Perspectives on Terrorism (ed.), Vol. 11, No 1 (02/2017).

Dezember 2018

Weimarer Republik 2.0? – Ein Plädoyer für einen differenzierten Umgang mit Begriffen im postfaktischen Zeitalter

Das gegenwärtige gesellschaftliche Klima weist zahlreiche Parallelen zur Weimarer Republik auf[1]: Eine zerstrittene Parteienlandschaft, die vielen Bürger*innen den Eindruck zu vermitteln scheint, dass ‚die‘ Politiker*innen statt der bürgerlichen vielmehr die eigenen (Macht-)Interessen im Blick haben und ein zunehmendes Erstarken nationalistischer Bestrebungen, deren Befürworter*innen eine ‚Harte Kante‘-Politik gegen diejenigen fordern, die (ihnen) fremd und infolgedessen als potentielle Gefahr gegenüber der eigenen Identität erscheinen.[2]

Der Vergleichspunkt zur damaligen Zeit, der aus religionswissenschaftlicher Perspektive jedoch am augenfälligsten erscheint, ist die erneute Unterscheidung zwischen Religionszugehörigkeit und Nationalität, die erneut vielerorts postuliert wird. Eben jenes ‚Argument‘, man könne nur ‚eines‘ von beiden besitzen, die Religionszugehörigkeit oder die Staatsbürgerschaft, wenn man Deutsche(r) sein wolle, zeichnete sich bereits in den Tagen der Weimarer Republik ab und führte dazu, dass die Forderung aufgestellt wurde, entweder ‚Deutsche(r)‘ oder Jude/Jüdin zu sein.[3]

Dasselbe Argument findet man gegenwärtig in sogenannten ‚neuerstarkten konservativen‘ Reihen, die es dieses Mal nicht auf das Judentum, sondern auf den Islam übertragen: Ein(e) Muslim(a) kann kein(e) Deutsche(r) sein, da man sich nach ‚einhelliger‘ Meinung entweder nur für den Islam oder für das ‚Deutschsein‘ entscheiden könne.[4]

Diejenigen, die sich damals wie heute für die Unvereinbarkeit von individueller Religionszugehörigkeit und spezifischer Nationalzugehörigkeit aussprachen bzw. aussprechen, sind vielfach jedoch nicht etwa – wie zu erwarten – ‚Expert*innen‘ hinsichtlich einer der von ihnen als ‚nicht-deutsch‘ abqualifizierten Religionen, sondern können zumeist keinerlei fachliche Qualifikationen in dieser religionsbezogenen Disziplin aufweisen.[5] Vielmehr scheint hier die Lautstärke des Redners antiproportional zu dessen inhaltlicher Qualifikation zu stehen, ohne dass dieses Faktum dem ‚Erfolg‘ seiner Thesen einen Abbruch tun würde.[6]

Erstaunlicherweise wird diese nationalstaatliche ‚Bedingung‘ niemals mit dem religiösen Status eines Christen oder einer Christin verknüpft, unabhängig davon, wie ‚radikal‘ deren jeweilige religiöse Überzeugung auch sein mag.[7] Hinsichtlich des Christentums wird eine (religionsbezogene) Ausnahme gemacht und auf das jüdisch-christliche Erbe verwiesen, das als Fundament des Abendlandes und der Zivilisation betrachtet wird; eben jenes Erbe, das während der Weimarer Republik nichts (mehr) bedeutete.

Es wird demnach nicht nur historisch das passend gemacht, was der sogenannte ‚neue Konservatismus‘ gerne als passend betrachten möchte, sondern diese Angleichung von Meinungen erfolgt auch im Hinblick auf wissenschaftliche Begriffe, die inflationär in sehr einseitiger Art und Weise verwendet werden und deren unbedachte und nicht hinterfragte Verwendung dazu beitragen kann, unbewusst die Pauschalisierungsstrategie der ‚Neuen Rechten‘ zu verbreiten.

Ein Beispiel hierfür ist der Begriff Islamismus.[8] Dieser wird in der öffentlichen Diskussion überwiegend mit einer Ideologie verknüpft und in dieser Interpretation von vielen unterschiedlichen Gruppen und Personenkreisen in Deutschland verwendet. Das Suffix –ismus kann jedoch grds. zur Illustrierung vier verschiedener Dimensionen wie des Abstraktums, Glaubenssystems, der geistigen Strömung in Geschichte, Kunst und Wissenschaft sowie der Ideologie verwendet werden.[9] Die selektive Verwendung nur eines dieser Gegenstandsbereiche in Bezug auf den Terminus Islamismus stellt infolgedessen keinen differenzierten Umgang mit diesem Begriff dar.[10] Mohagheghi betrachtet die Verwendung des Begriffs Islamismus darüber hinaus als dazu geeignet, eine negative Beeinflussung der öffentlichen Wahrnehmung hinsichtlich des Islams zu kultivieren.[11]

Dies wirft die Frage nach dem Grund hierfür auf?

Die möglichen Antworten sind sehr vielfältig und können sich von expliziter Ablehnung einer spezifischen Religion, über Unachtsamkeit gegenüber einem Begriff und dessen Auswirkungen für diejenigen, auf die er verwendet wird, bis hin zu einer gezielten Strategie der Ausgrenzung einer gesamten Gruppe – im Sinne gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – erstrecken.[12]

Die folgende Begebenheit illustriert die schleichende Verunsicherung, die der Begriff ‚Islamismus‘ innerhalb der Bevölkerung mit sich bringt und zeigt sehr deutlich auf, dass ein reflektierter Umgang mit diesem Begriff – der im Grunde nicht von der Mehrheit der Bevölkerung zu erwarten sein kann, da diese sich nicht mit ihm wissenschaftlich auseinandersetzen muss, sondern ihn nur in seiner einseitigen Vermittlung adaptiert hat[13] – dringend notwendig wäre.

Eines Tages rief mich der Vorsitzende des Islamischen Vereins X vollkommen empört an. Er habe soeben bei einer großen deutschen Bank ein Konto für den Verein eröffnen wollen, um dort die Spendengelder ordnungsgemäß und transparent für alle Mitglieder verwalten zu können. Zunächst schien alles in Ordnung zu sein, da er das kleine Wort ‚Islamisch‘ nicht direkt erwähnt habe. Als er diesen Zusatz jedoch in das dafür vorgesehene Feld (Name des Kontoinhabers) bei der Kontoeröffnung eingetragen habe, sei die Bank-Mitarbeiterin zunehmend reservierter geworden. Er habe darüber jedoch nicht weiter nachgedacht, da jeder einmal einen schlechten Tag habe.

Einige Tage später erhielt der Vorsitzende dieses religiösen Vereins einen höchst verstörenden Anruf. Ein Mitarbeiter des Staatsschutzes meldete sich bei ihm, um ihm sehr freundlich mitzuteilen, dass er das Konto bei der avisierten Bank gerne eröffnen könne, das sei überhaupt kein Problem.

Der Vorsitzende war geschockt. Seit Jahrzehnten bezahlte er seine Steuern, hatte noch nie Strafzettel erhalten und bereits seit Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft inne. Was konnte also der Grund für diesen Anruf von ‚offizieller Stelle‘ sein?

Der freundliche Herr vom Staatsschutz erklärte ihm auf Nachfrage hin den ‚Sachverhalt‘ etwas genauer: Die Bank-Mitarbeiterin habe – alarmiert von dem Begriff ‚islamisch‘ – den Staatsschutz angerufen und nachgefragt, ob der Islamistische Verein X vielleicht von Terroristen (ein ebenfalls in Bezug auf ‚den‘ Islam inflationär verwendeter Begriff) geführt werde. Sie wolle hinsichtlich dieses Neukunden mit dem Islambezug auf ‚Nummer Sicher‘ gehen.

Begriffe können Wahrheiten schaffen.

Deshalb müssen wir sehr behutsam mit ihnen umgehen und insbesondere bei einer Mehrdeutigkeit bestimmter Begriffe möglichst differenziert mit ihrem Kontext und Bezugsrahmen sowie dem jeweiligen Sender- und Empfängerkreis umgehen, um die individuellen Absichten derjenigen, die mit einem spezifischen Begriff operieren, einordnen und ggf. hinterfragen zu können.

Interessanterweise wird in diesem Zusammenhang häufig der Empfängerkreis eines Begriffs – wie im vorliegenden Fall des ‚Islamismus‘ der Islamische Verein X – auf den Prüfstand gestellt, jedoch sehr selten dessen Sender. Gerade hier würde sich jedoch ein genauer, sogar ein prüfender Blick anbieten, der möglicherweise die tatsächlichen Absichten des Senders illustrierte, vielleicht sogar demaskierte.

Handelt der Sender aufgrund individueller oder professioneller Absichten, bspw. der unbedingten Konsolidierung seiner eigenen Deutungshoheit über ein spezifisches Phänomen? Oder geht es ihm tatsächlich um allgemeinverbindliche Positionen wie bspw. das Wohl oder den Schutz der Allgemeinheit?

Wäre folglich eine Vielfalt von Meinungen und Definitionen zu einem Begriff nicht im Sinne einer pluralen Gesellschaft und entspräche das gegenteilige Handeln, also das Beharren darauf, im Besitz ‚der einzig wahren Deutungsmöglichkeit‘ über ein Phänomen, das zahlreiche Facetten aufweist, nicht vielmehr dem Ausdruck eines einseitigen Dominanzanspruchs, welcher den Grundsätzen einer Demokratie zuwiderhandelt, weil er für seine Interpretation ein Monopol beansprucht?

Wenn wir verantwortungsvoll und das bedeutet wissenschaftlich mit Begriffen umgehen wollen, müssen wir lernen zu differenzieren. Wir sollten Begriffe überdenken und überlegen, ob diese tatsächlich angemessen sind oder vielmehr zu einer Diskriminierung beitragen könnten. Im Falle des Islamismus wäre „die Verwendung des Begriffs radikaler Islam“ deshalb folgerichtiger, weil er nicht eine gesamte Religion dämonisiert, sondern stattdessen nur die radikalen Ausprägungsformen näher betrachtet.[14] Natürlich ist der Begriff noch immer nicht ‚ideal‘, aber er scheint ein Anfang zu sein, um nicht weiterhin den stark stigmatisierenden und verallgemeinernden Begriff ‚radikaler Islam‘ benutzen zu müssen.

Diese radikalen Interpretationen des Islams gibt es tatsächlich auch, nur scheint es immer schwieriger zu werden, diese öffentlich zu benennen, ohne sogleich nur Befürworter aus dem rechten Milieu zu finden, die für eine solche Kritik zugänglich sind, weil sie die Kritik an einer radikal-islamischen Gruppe stets  dafür nutzen, um Pauschalurteile gegenüber einer gesamten Religion zu konstatieren und deren Vertreter*innen unter Generalverdacht zu stellen.

Im Sinne der Meinungsvielfalt, der freien Meinungsäußerung und gegen die Vorverurteilung sollte eine differenzierte Betrachtung von Begriffen demnach verpflichtend für alle sein, die sich an einem (öffentlichen) Diskurs beteiligen möchten. Die Strategie der Ausgrenzung, die durch einseitige und diskriminierende Begriffsverwendungen verfolgt wird, sollte deutlich abgelehnt werden – unabhängig davon, wer sie praktiziert.

Hannover, den 19.Dezember 2018[15]

Nina Käsehage

 

Fußnoten:

Zitierhinweis: Nina Käsehage, Artikel: Weimarer Republik 2.0? – Ein Plädoyer für einen differenzierten Umgang mit Begriffen im postfaktischen Zeitalter, in: [http://www.salafismus-forschung.de/artikel], 19.12.2018.

[1] Dieser Ansatz kann im Folgenden aufgrund des vorgegebenen Rahmens nur skizziert werden.

[2] Zitat: „Tillschneider [eig. Anm.: AfD-Landtagsabgeordneter] ist habilitierter Islamwissenschaftler. Er sieht sich aber lieber als Orientalist, denn, so sagte er Hannover: „Der Orientalist ist ein Fachmann für das Fremde, aber das setzt voraus, dass das Fremde das bleibt, was es ist: Fremd.“, in: [http://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Niedersachsen/AfD-diskutierte-ueber-den-Islam], 24.05.2018.

[3] Shooman weist auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen historischen sowie gegenwärtigem/-r Antisemitismus und Islamophobie hin. Vgl. Yasemin Shooman, Art.: Islamfeindlichkeit und Antisemitismus, Diskursive Analogien und Unterschiede, in: Jüdisches Museum Berlin (JMB) Journal 2012, Nr. 7, S. 18f.

[4] Vgl.: [https://michael-mannheimer.net/2017/09/20/afd-pressekonferenz-islam-ist-nicht-mit-freiheitlichen-demokratischen-grundordnung-deutschlands-vereinbar/], 02.10.2017.

[5] Vgl.: [https://michael-mannheimer.net/2012/11/01/wie-moderater-und-radikaler-islam-zusammenhangen/], 02.10.2017.

[6] Zitat: „Diese Autoren unterscheiden nicht zwischen der Religion und ihrer politischen Zweckentfremdung. Damit haben sie Erfolg. Sie haben sich mit ihrer sogenannten Islamkritik ein Geschäftsfeld erkämpft – und gehören heute zu den am meisten zitierten „Islamexperten“ Deutschlands, obwohl sie sich gar nicht theologisch mit dem Islam befassen, sondern ihn nur pauschal aburteilen.“, in: [http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-10/islamophobie-mitte-afd-medien-islam-3-02/komplettansicht], 01.11.2017. ; vgl.: [http://www.fr.de/kultur/literatur/islamfeindlichkeit-studie-mein-feind-zeigt-euch-wer-ich-bin-a-548429], 01.11.2017.

[7] Vgl.: [https://michael-mannheimer.net/2017/09/10/regensburger-bischof-warnt-integration-des-islam-unmoeglich/], 02.10.2017.; Vgl. Thorsten Gerald Schneiders, Thorsten Gerald Schneiders , Art.:

Islamkritik – Deckmantel für feindliche Bestrebungen und notwendiges Korrektiv, Tagungsband

Muslimfeindlichkeit – Phänomen und Gegenstrategien, Beiträge der Fachtagung der Deutschen Islam Konferenz am 4. und 5. Dezember 2012 in Berlin, S. 111.

[8] Die unterschiedlichen Definitionsmöglichkeiten dieses Begriffs werden detailliert erörtert, in: Nina Käsehage, Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger, Diss., 2. Aufl., Berlin 2018, S. 60-63.

[9] Vgl. Anne Wildfang, Terrorismus, Definitionen, Struktur, Dynamik, Diss., Berlin 2009, S. 20f.

[10] Vgl. Bettina Birk, Konnotation im Deutschen, Eine Untersuchung aus morphologischer, lexikologischer

und lexikographischer Perspektive, Dissertation, München 2012, S. 220.

[11]  Vgl. Hamideh Mohagheghi, Frauen für den Dschihad, Das Manifest der IS-Kämpferinnen, Freiburg im Breisgau

2015, S. 8.

[12] Vgl.: [https://michael-mannheimer.net/2011/11/03/wenn-islamismus-nicht-identisch-ist-mit-islam-was-tun-islamisten-dann-anders-als-mohammed/], 02.10.2017.

[13] Zitat: „Und dass der Islam keine Religion, sondern eine Ideologie sei und Muslime sich deshalb nicht auf die Religionsfreiheit berufen könnten. Manch einer würde diesem Satz wohl zustimmen. Kein Wunder: Die Deutschen haben es in den vergangenen Jahren kaum anders gehört.“, in: [http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-10/islamophobie-mitte-afd-medien-islam-3-02/komplettansicht], 01.11.2017.

[14] Zitate: Nina Käsehage, Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger, S. 63.

[15] Dieser Artikel wurde ursprünglich am 30. Oktober 2018 verfasst und dem Verein ‚Gegen Vergessen – Für Demokratie‘ infolge meines Vortrags in Augsburg vom Oktober 2018 zur Veröffentlichung auf dessen Homepage zugesendet. Der verantwortliche Ansprechpartner für die Homepage des Vereins sieht eigenen Aussagen zufolge jedoch zu wenige Schnittmengen zwischen dem Ansatz dieses Artikels und des von ihm benannten ‚Präventionsnetzwerkes‘, das mit seinem Verein eng kooperiere. Diese Begründung ist insofern paradox, da zahlreiche der muslimischen Verbände, die Teil des ‚Präventionsnetzwerkes‘ sind,  gemäß der Empirie der Verfasserin von der nichtvollzogenen Begriffsschärfung im Hinblick auf den Begriff ‚Islamismus‘ selber betroffen waren und sind.

Der Verein ‚Gersthofen ist bunt‘ führt den vorliegenden Artikel auf seiner Homepage jedoch weiterhin auf.

 

Februar 2017

Zitierhinweis: Nina Käsehage, Artikel: Religion als politisches Werkzeug? – Wenn die Lösung das Problem ist, in: [http://www.salafismus-forschung.de/artikel], 16.02.2017.

Religion als politisches Werkzeug? – Wenn die Lösung das Problem ist

Neben der kindgerechten Vermittlung religiöser Inhalte nutzt die Diyanet ihre Comics für Kinder dazu, um die Religion als ein Instrument der Radikalisierung von Kindern und Jugendlichen einzusetzen.(1) Diese religiöse Radikalisierung wurde auch im Kontext der DITIB in Deutschland für einige Gemeindemitglieder im Rahmen der Feldforschung zur salafistischen Bewegung in Deutschland, die in den Jahren 2012 bis 2015 betrieben wurde, empirisch belegt.Die folgenden Ausführungen sollen die möglichen Ursachen dieser Politisierung der Religion skizziert rekonstruieren und prüfen, inwieweit diese Vorgehensweise die Ausbildung eines radikal-islamischen Klimas in manchen DITIB-Vereinen begünstigt. Darüber hinaus wird anhand eines Feldforschungsexempels aus der DITIB ein möglicher Radikalisierungs-Kausalzusammenhang zu rekonstruieren versucht und mit Beobachtungen des Verhaltens türkischer Grenzbeamter an der türkisch-syrischen Grenze kontextualisiert.

Der vorliegende Artikel ist keineswegs als ein Versuch der ‚Dämonisierung‘ oder Stereotypisierung der DITIB-Vereine in Deutschland zu verstehen. Vielmehr möchte er anhand der diesbezüglich vorliegenden Empirie eine mögliche Tendenz zu radikal-islamischem Gedankengut innerhalb einiger Teile des DITIB-Milieus aufzeigen, die sicherlich nicht von allen, jedoch von einigen Gemeindemitgliedern (in-)offiziell vertreten wird und weder im Sinne der Mehrheit der DITIB-Mitglieder in Deutschland, noch im Sinne der Gesamtgesellschaft sein sollte. Um einen ‚Gegentrend‘ hierzu einzuleiten, werden final einige Empfehlungen ausgesprochen.

Hintergründe zur Entstehungsgeschichte

Das ‚Präsidium für religiöse Angelegenheiten‘ (Diyanet Isleri Baksanligi, abgekürzt: DIYANET) wurde im Jahr 1924 u.a. mit dem Auftrag gegründet, islamische Glaubensgrundlagen weiterzugeben, religiöse Einrichtungen zu beaufsichtigen und für deren Personal-Status Sorge zu tragen. Die DITIB (Diyanet Isleri Türk Islam Birgligi ~ Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.) wurde im Jahr 1984 in Köln mit der Zielsetzung installiert, um die Bindung türkischer Staatsbürger, welche im Ausland leben, hinsichtlich  „religiöser und nationaler Werte zu stärken, den Missbrauch religiöser Gruppierungen zu verhindern und um diesbezüglich alle im Ausland stattfindenden Aktivitäten zu leiten.“ (2) Zwischen beiden Akteuren existieren zahlreiche personelle Interdependenzen, die dazu führten, das bspw. DITIB Beiratsmitglieder häufig zugleich im Verwaltungsausschuss der Diyanet-Stiftung waren und als Präsidenten der Diyanet fungierten sowie im Kontext der Konzeption für den islamischen Religionsunterricht in Kölner Schulen eine Zusammenarbeit der Diyanet, des türkischen Bildungsministeriums sowie des DITIB-Vereins erfolgte. (3)

Gewaltverherrlichende Comics

Im Frühjahr 2016 veröffentlichte die Diyanet einen Comic, in dem die Rolle des Märtyrers verherrlicht wurde und über die sich zunächst die türkische Zeitung Cumhuriyet und der österreichische Standard empörten. Es geht dabei inhaltlich um ein Gespräch des Vaters mit seinem Sohn bzw. der Mutter mit ihren Kindern, in dem der Vater bspw. Aussagen wie „Ich wünschte, ich könnte auch ein Märtyrer sein“ gegenüber seinem Sohn tätigt. Der Comic trägt die Überschrift: „Allahs Gnade über unsere Märtyrer – Mögen ihre Gräber voller Licht sein“ undsieht in Gänze wie folgt aus:

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(4)

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(5)

Die Ambivalenz der Dialoge und Statements im Comic, die zum einen den Märtyrer in den Dienst des Militärs einreihen und als ‚ehrenhaft‘ umschreiben, anstatt darauf hinzuweisen, dass beim Militär Soldaten und keine Märtyrer ausgebildet werden, führt dazu, dass das traditionell säkular ausgerichtete, türkische Militär in die Nähe eines radikal-islamischen Gedankenguts gerückt wird. Zum anderen wird durch die Aussage der Mutter, die der Tochter, stellvertretend für alle gläubigen (weiblichen) Muslime, in vielsagender Manier ‚andere‘ Optionen neben dem Märtyrerdasein bzw. Märtyrertod als mögliche, gottgefällige Taten, in Aussicht stellt, das Motiv des Märtyrertodes bewusst facettenreich, deutungsabhängig und variabel darzustellen. Die Tatsache, dass keine deutliche Distanzierung von der Variante des Märtyrers als Selbstmordattentäters im Namen Gottes, welche radikal-islamische Gruppe praktizieren, als mögliche Deutung vom Comic angeführt wird, ist ein Hinweis darauf, dass die Herausgeber des Comics diese Deutungsmöglichkeit zumindest billigend in Kauf nehmen. Die aufgezählten Verknüpfungen zwischen der Diyanet und der DITIB lassen die Vermutung zu, dass die gewaltverherrlichenden Comics der Diyanet auch Eingang in die Hände der Kinder erhalten, die die Einrichtungen der DITIB in Anspruch nehmen. Hierdurch gelangen möglicherweise bereits Kinder mit gewaltverherrlichenden Aussagen in Kontakt, die sie nicht für die Schönheit des Lebens und dessen unbedingten Schutz begeistern sollen, sondern vielmehr den ‚Ehrerwerb‘ durch den Märtyrertod religiös legitimieren.

Empirische Untersuchungen im DITIB-Umfeld

Im Zuge der Feldforschung für die Dissertation über die salafistische Szene in Deutschland konnte die Verfasserin auch Interviews mit DITIB-Mitgliedern führen, die mit der salafistisch-dschihadistischen Szene kollaborierten und zum Teil auch andere Mitglieder dazu ‚verführten‘, sich der dschihadistischen Idee des Islamischen Staates (IS) in Syrien und dem Irak persönlich zu verschreiben.(6) Ein junger Mann, der seit seiner Kindheit im Umfeld eines regionalen DITIB-Vereins religiös und kulturell sozialisiert wurde, gelangte über ein ‚tonangebendes‘ DITIB-Mitglied, zu dem er persönlich aufschaute, in den Einflussbereich der deutschen salafistisch-dschihadistischen Szene, da sein männliches ‚Vorbild‘ bereits im Auftrag eines namhaften dschihadistischen Predigers neue Adepten für den Dschihad in Syrien im Umfeld der DITIB rekrutieren sollte. Er schildert seine Rekrutierung und die daraus erwachsene Faszination wie folgt:

„Mein Bruder war bei den ‚wahren Muslimen‘ [eig. Anm.: gemeint sind in diesem Fall die dschihadistischen Salafisten] und hat mir dann Videos und Filme über das Leid der umma in Syrien gezeigt.[…] Durch ihn habe ich erkannt, wie wichtig es ist, dass ich mich am Dschihad beteilige.“ (7)

Es wird anhand dieses Beispiels erkennbar, dass die Radikalisierung von jungen Männern auch in Abhängigkeit zu ihren (männlichen) Idolen erfolgen sowie der Wirkmacht vermeintlicher ‚Augenzeugen-Berichte‘ geschuldet sein kann. Ein weiterer Faktor für die Bereitschaft des jungen Mannes, sich überhaupt in seinem ‚vertrauten‘ (DITIB-)Umfeld von den Dschihad-Vorstellungen einer anderen religiösen Szene angesprochen zu fühlen, liegt in der Ablehnung der Vermengung von ‚Kultur‘ und ‚Religion‘, die der Respondent wie folgt darstellte:

„Bei DITIB gibt´s zu viel Kulturelles in der Religion, nich´ mehr nur Koran und Sunna, sondern andauernd türkische Politik, was nich´ in Allahs Sinne ist.“(8)

Dies bedeutet, dass die vermeintlich salafistische ‚Purifizierung‘ des Glaubens für den jungen Protagonisten eine bedeutende religiöse Grundlage darstellte, welche er eigenen Aussagen zufolge im DITIB-Verein vermisste, der sich zu sehr mit den Belangen der türkischen Politik sowie der Kultur beschäftige und somit der göttlichen ‚Botschaft‘ nicht die alleinige Aufmerksamkeit zugestehe.

Türkisch-syrische ‚Grenzerfahrungen‘

Darüber hinaus konnte im Zuge teilnehmender Beobachtung in den türkisch-syrischen Grenzstädten Urfa und Gaziantep im Jahr 2015 festgestellt werden, dass die türkischen Grenzbeamten keineswegs dazu beitrugen, dass IS-Sympathisanten nicht nach Syrien einreisen konnten, um sich dem künstlich geschaffenen Konstrukt des IS anzuschließen, sondern sich vielmehr folgende Szenarien abspielten: Wenn bspw. durch die schwarze Shahada-Flagge, die am Körper oder dem Kopf getragen wurde, gekennzeichnete junge Männer die Grenzstationen von der türkischen Seite in Richtung Syrien passieren wollten, konnten diese ohne Probleme sicher nach Syrien gelangen; zum Teil unter anfeuernden ‚Allahu Akbar‘-Ausrufen der türkischen Grenzbeamten. Darauf angesprochen, wurden die türkischen Grenzbeamten entweder aggressiv und verweigerten unter Gewaltandrohungen jede Aussage. Die redseligeren Vertreter unter den türkischen Grenzbeamten bestätigten ihre Sympathien für den IS und erläuterten bereitwillig ihre ‚Taktik‘ hinsichtlich der Vorgesetzten, um nicht als Dschihad-Befürworter ‚enttarnt‘ zu werden: Wenn sie bemerkten, dass die Vorgesetzten in der Nähe seien, feuerten sie in der Luft, damit es so wirke, als feuerten sie auf IS-Adepten, die an ihnen vorbei nach Syrien gestürmt seien. Die Peschmerga würden sie jedoch beim versuchten Grenzübertritt in jedem Fall ‚stellen‘ und ins Gefängnis werfen, da sie die ‚verhassten‘ Kurden unterstützten, derer man sich im Zuge des syrischen Bürgerkriegs doch sehr zu ‚entledigen‘ suche, erklärten die türkischen Grenzbeamten darüber hinaus. Die Inhalte dieser unfassbaren Berichte konnte die Verfasserin einige Tage selber in Augenschein nehmen, als sie aus sicherer Entfernung die Grenzübergänge betrachtete. Diese Beobachtung ist aufgrund der Einflussnahme der Türkei über die Diyanet auf die in Deutschland ansässigen DITIB-Vereine besorgniserregend, weil die Vermutung nahe liegt, dass es sich hierbei nicht um Einzelfälle willkürlich handelnder Grenzbeamter, sondern um eine zentral gesteuerte Haltung der Türkei handelt.

Empfehlungen

Auf der Basis der vorliegenden (empirischen) Erkenntnisse hinsichtlich der divergierenden Bereiche wird deutlich, dass die Durchdringung der DITIB-Vereine, sowohl unter dem Einfluss der Diyanet, als auch unter dem Einfluss der dschihadistisch-salafistischen Szene, der akuten Gefahr ausgesetzt ist, zahlreiche junge, männliche Mitglieder an ein gewaltverherrlichendes Ziel zu verlieren. Darüber hinaus ist es fraglich, ob einige Vorstände oder Imame, wie in den unterschiedlichen DITIB-Interviews mit der Verfasserin zum Teil erwähnt – nicht auch selber die dschihadistische Lesart des Islam insgeheim favorisieren und deshalb keine Einwände gegenüber der ‚schleichenden‘ Indoktrinierung ihrer Gemeindemitglieder mit deren Ideologie vorbringen. Es empfiehlt sich infolgedessen, in einer ‚Fall-zu-Fall‘-Betrachtung der einzelnen DITIB-Gemeinden und deren entscheidenden Protagonisten und Imamen zunächst zu klären, wo diese religiös bzw. ideologisch angesiedelt sind. Diese Einzelbetrachtung ist notwendig, um keine Verallgemeinerungen und Vorverurteilung hinsichtlich der DITIB-Vereine oder ihrer Mitglieder und hauptberuflichen Vertreter auszubilden. In einem weiteren Schritt sollte mit den Protagonisten, die am Wohl ihrer Mitglieder und nicht dessen baldigem Märtyrertod interessiert sind, ein gemeinsames Konzept erarbeitet werden, welche familiären Problemlagen und Zukunftsperspektiven die jungen Mitglieder aufwiesen und wie diese – neben dem religiösen und seelsorgerischen Auftrag des Imams – auch zivilgesellschaftlich auf konstruktive Art und Weise kanalisiert werden könnten. Gemeinsam kann ein Konzept der Prävention zwischen dem in Deutschland mittlerweile größten islamischen Verband und der Regierung dazu beitragen, dass die jungen Menschen nicht sinnlos ihr Leben vergeuden, in dem sie sich einer Fahrt ohne Wiederkehr in den Dschihad oder dem regionalbezogenen Postulat der Shari´a-Implementierung anschließen.

Darüber hinaus sollte die Rolle deutscher Sicherheitsbehörden in diesem Kausalzusammenhang von unabhängiger Stelle untersucht und transparent aufgearbeitet werden. Unabhängig ist eine Stelle oder ein Forscherkreis dann, wenn dessen Mitglieder weder ideell, noch finanziell in sicherheitsbehördlicher Abhängigkeit stehen. Erst dann und nur dann kann authentisch und glaubwürdig geklärt werden, warum und in welcher Weise Versäumnisse hinsichtlich der Ausreiseabsicht junger Männer, die häufig persönliche Bindungen zur DITIB aufwiesen, bevor sie sich dem Dschihad zuwandten, in Bezug auf die beschriebenen deutschen Behördenbereiche zu beklagen sind. Aussagen sicherheitsbehördlicher Protagonisten, die der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass die ausgereisten jungen Männer in Syrien und dem Irak ihr Leben ließen und damit das ‚Problem‘ gelöst sei, sind nicht nur aufgrund ihrer Menschenfeindlichkeit inakzeptabel, sondern auch angesichts dessen Nicht-Eintritts und der möglichen Gefahr durch verrohte Rückkehrer, die es neben desillusionierten Personenkreisen ebenso geben kann, vollkommen lebensfremd. Sollte also ein tatsächliches Interesse an der Aufklärung jener Vorgänge bestehen und damit der aufrichtige Wunsch verbunden sein, aus den eigenen Fehlern zu lernen und diese infolge eines Haltungswechsels nicht mehr zu vollziehen, dürfte einer Aufklärung und Aufarbeitung der Ereignisse nichts mehr im Wege stehen, denn nur wie wir handeln, zeigt, wer wir wirklich sind.

  • Diyanet cocuk dergisi, Nisan 2016, Sai: 426, Ankara 2016, S. 4.
  • Zitat: Diyanet Isleri Baskanligi (Hrsg.), Kurulusundan Günümüze Diyanet Isleri Baskanligi: Tarihce-Teskilat-Hizmetve Faaliyetler (1924-1997) (Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten seit seiner Gründung: Geschichte-Organisation-Dienstleistung und Aktivitäten [1924-1997], Ankara 1999, S.760.
  • Aysun Yasar (Hrsg.), Die DITIB zwischen der Türkei und Deutschland, Untersuchungen zur Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V., in: MISK (Mitteilungen zur Sozial- und Kultur-Geschichte der islamischen Welt), hrsg. von: Rahul Peter Das, Angelika Hartmann, Jens Peter Laut, Ulrich Rebstock, Tilman Seidensticker, Bd. 32, Würzburg 2012, S. 77; 66.
  • Diyanet cocuk dergisi, Nisan 2016, Sai: 426, Ankara 2016, S. 4.
  • vgl.:[http://www.kossawa.de/index.php/inland-ausland/412-tuerkische-maertyrererziehung], 01.09.2016.
  • Die im Folgenden geschilderten Inhalte berühren nicht die Inhalte, die in der Dissertation der Verfasserin behandelt werden.
  • Zitat: Interview-Transkription_Abu Can, S. 4. [Dieses Interview ist ein noch unveröffentlichtes Interview, das aus der Feldforschung der Verfasserin im salafistischen Milieu Deutschlands stammt. Der Name des Respondenten wurde anonymisiert.]
  • Zitat: Ebenda, S. 5f.

Bereits am 02.09.2016 übersandte die Verfasserin den vorliegenden Artikel zahlreichen, sich mit diesem Thema beschäftigenden, deutschen (Fach-)Zeitschriften sowie Zeitungen. Eine dortige Veröffentlichung erfolgte bislang nicht, weswegen der vorliegende Artikel aufgrund seiner zivilgesellschaftlichen Bedeutsamkeit für die deutsche Öffentlichkeit auf meiner Homepage zugänglich gemacht werden soll.

Am 05.09.2016 beendete das Präventions-Programm ‚Wegweiser‘ des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen die Kooperation mit DITIB, vgl.: [http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/nrw-beendet-kooperation-mit-tuerkisch-islamische-union-ditib-14421072.html], 05.09.2016.], 09.01.2017.